Traumpflücker
Ein Abend, an dem die Ewigkeit die Zeit berührt. Choreograf Stefano Giannetti malt eine anrührende Huldigung an das Oszillierende in unserem Dasein auf die Werkstattbühne des Pfalztheaters. Ein Beleuchten der Grenzbezirke, in denen Mächte unsere Existenz berühren, die sich der Verfügbarkeit entziehen, wie die große Liebe. Eine Referenz an das Flüchtige, das nicht Handhabbare, das eine Ahnung von einer anderen, größeren Wirklichkeit aufkommen lässt. Mit Tanzfiguren, die die Zeit verlangsamen, leicht und schwebend, die auf das nicht zu Fassende und zu Haltende verweisen. Dann wieder Aufbegehren, Widersetzlichkeit, Gefühlseruptionen, jakobsgleiches Ringen mit Gott und seinen Engeln. Tiefe Ergriffenheit füllt den Raum, man spürt den Einbruch des Göttlichen in das Profane, verbunden mit Rilkeschem Erschrecken vor dem "stärkeren Dasein", Engel genannt, wenn in dem Rückgriff auf das Tristan-und-Isolde-Motiv in einem ersten Gang die Liebe eines Mannes zu zwei Frauen thematisiert wird. Die Bühne fast leer, weil Engel Innenräume stiften. Vier gläserne Flügel, denen Scheinwerfer einen Schimmer vom Glanz der Ewigkeit verleihen. Im zweiten Stück erweitert um die vertikale Dimension mit einem weiteren Flügelpaar an der Theaterdecke. Das puristische Bühnenbild von Martin Reszler lässt dem Kontingenten Raum, widersteht jeder Versuchung, Bild und die gemeinte Sache zu verwechseln.
Alles beginnt, wie es endet. Bewegung pur, ohne Musik. Zwei Frauen, die hier huldreich gewähren und dort sinnlich verlocken. Die Ineinswerdung von englischer und weißer Isolde, ein atemberaubendes Bild, wenn die mit den weißen Händen und dem hellen Trikot erst unter den blauen Rock der anderen schlüpft, später die Verschmelzung, ein Kleid, das seine Zerreißprobe besteht, vier Arme aus zwei Ärmeln, zwei Köpfe aus einem Kragen, imaginierte Liebe und reale, die Grenzen verschwimmen, längst hat die Musik eingesetzt, die jetzt zu dieser Aktion aussetzt. Komponiert von Alois Bröder, seine Îsôt als blansche mains, die eingespielt wird. Hochdramatisch, dann wieder elegisch, Musik, die herausfordert, die zur Entscheidung ruft. Die doppelte Isolde, eine athletische und ästhetische Offenbarung.
Eleonora Fabrizi, Laure Courau und Chris Kobusch in den Rollen der Isolde, der Isolde aux mains blansches und Tristans. Er in blauer Hose und mit nacktem Oberkörper. Die beiden Ausstatterinnen Julia Buckmiller und Barbara Kloos mit Kostümen, die die Geschichten beider Stücke verstärken, die durch ihre durchgehende Sachlichkeit bestechen. Nur Jan Paul Werge, Komponist, Sänger und einbezogen in die Choreografie, darf ein androgynes Kordelgeflecht um den Hals tragen. Engel haben kein Geschlecht. Giannetti lässt seine Company Gesichter auflegen, denen die Wehmut über die Unentrinnbarkeit anzusehen ist und die Ernsthaftigkeit, die der großen Liebe anhaftet. Kein süßliches Lächeln überdeckt die Krisis, in die die Gefühle sie führen. Hebefiguren, die Kobusch alle Kraft abverlangen, ohne dass ihm die Anstrengung anzumerken wäre. Körpersprache bei allen drei TänzerInnen, die von einer Anmut und einer Metaphorik geprägt ist, der alles Gekünstelte, Gewollte abgeht. Am Ende rufen Engelsstimmen, alles bleibt offen, in der Schwebe. Ein verstörend schönes Balletterlebnis.
Im zweiten Stück, den Engelsliedern, tritt die ganze Company auf: Flavia Samper, Letizia Cirri, Kai Tanaka, Salvatore Nicolosi, Laure Courau, Eleonora Fabrizi, Gabriella Limatola, Elénore Turri, Daniel Abbruzzese, Michal Dousa, Riccardo Marchiori und Chris Kobusch. Dass zwei Neue in der Company integriert sind, fällt im positiven Sinn nicht auf. Immer mehr wird die Handschrift Giannettis sichtbar, die bestechende Harmonie, die feine Abstimmung, die ästhetische Reife. Komponist Jan Paul Werge, als Thomaner sozialisiert, hat sich zur Grundlage seiner kompositorischen Eingriffe den Choral "Ach Herr, lass dein lieb Englein" von Johann Sebastian Bach ausgesucht, dazu "Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir" von Felix Mendelssohn Bartholdy, "Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde" von Johannes Brahms, aus Mozarts Requiem die Höllenvision und von Billy Joel den Song "Goodnight, My Angel". Letzteren eingebettet in das Andersen - Märchen "Jedes Mal, wenn ein Kind stirbt". Andersen lässt von den Engeln die Träume pflücken, Giannetti und seine Company bringen sie gemeinsam mit Jan Paul Werge auf die Bühne. Bei allen Neukompositionen bleiben die ursprünglichen Melodien heraus zu hören. Sämtliche Singstimmen sind von Werge aufgenommen, eine erstaunliche Bandbreite, höchste Höhen, um dann live und souverän die letzte fehlende Stimme zu intonieren. Ein Sänger, der tänzerisch mehr beherrscht als nur den Aplomb.
Das Publikum lässt sich spürbar in den Bann schlagen. Begeisterter, sehr langer Beifall. Dieses Stück wird unvergesslich bleiben. Und es wird schnell für alle Vorstellungen ausverkauft sein.

Frank Herkommer
(in: Opernnetz, 25.9.2012)

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Himmlischer Balsam
"Wie bin ich von diesem Namen verwirrt! Er vermischt Wahrheit und Lüge in meinem Verstand und in meinen Augen. Er bringt eine sonderbare Not in mir hervor: Îsôt lacht und scherzt mit mir, ist dauernd in meinen Ohren, und ich weiß doch nicht, wo Îsôt ist...", so sinniert Tristan im mittelalterlichen Versepos des Gottfried von Straßburg. Hatte der Drachentöter, Held und Liebhaber mit der einen Isolde eine Reihe von Liebesabenteuern genossen, lernt er in der Normandie „Isolde mit den weißen Händen“ kennen, die sich in ihn verliebt. Die Namensgleichheit mit seiner früheren Geliebten treibt Tristan in einen Konflikt. Was ist real, was bloße Einbildung? Die psychischen Verwerfungen dieser Situation bilden für den Komponisten Alois Bröder das Fundament für Îsôt als blansche mains.
Stefano Giannettis neuer Ballettabend "Engelslieder" ist zweigeteilt. Zunächst minutenlang sparsame Gesten, klassische Linien, immer wieder innehaltend: das Paar Tristan und Isolde beginnt in absoluter Stille. Im Vordergrund räkelt sich am Boden die andere, erste Isolde. Nichts ist konstruiert, alles ergibt sich so organisch wie Nijinskys "Faun". Fast beiläufig klopft sie mit ihrem Spitzenschuh und bringt sich dem Geliebten in Erinnerung. Wie von unsichtbarer Hand geführt wird aus Duett und Solo ein Trio. Erst als die eine unters Kleid der anderen schlüpft, Vision und Realität der Namensschwestern miteinander verschmelzen, setzt mit kräftigem Schlag der Perkussionsinstrumente die Musik ein. Drängende Tonfiguren, hart angerissenen Saiteninstrumente, chromatisch fallendes Seufzer-Motiv und pulsierende Blechbläser-Klänge scheinen Tristan zu paralysieren. Mal als Beobachter, mal als Partner versucht er sich dem tanzenden Doppelwesen zu nähern, während die beiden Isolden sensibel die Klangfelder ausloten.
Mehrschichtig, labyrinthisch und kontrastreich ist das viertelstündige Orchesterwerk angelegt, das durch lange Pausen dramaturgisch an Spannung gewinnt und die Poesie des Tanzes hervorhebt. Lavendelblau und puderweiß sind die Kostüme (Barbara Kloos und Julia Buckmiller) und das Licht – indirektes tiefblaues Neon an drei Seiten und weiße Strahler rechts und links sowie einige wie Flügel geschwungene Plexiglas-Scheiben (Martin Reszler) – unterstützen die surreale Stimmung.
Balsam für die Seele sind Kompositionen wie das Gedicht der versunkenen Stadt "Vineta", von Wilhelm Müller, vertont von Johannes Brahms, "Confutatis" aus Mozarts "Requiem" oder Mendelssohn Bartholdys Wiegenlied "Denn er hat seinen Engeln befohlen". Wer wüsste das besser, als der 1981 in Dresden geborene Komponist, Sänger und Darsteller Jan Paul Werge, der von 1990 bis 1998 als Thomaner in Leipzig ausgebildet wurde. Für den zweiten Teil des Ballettabends hat Werge nicht nur eine Liedauswahl zum Thema Engel getroffen − Epochen übergreifend von Bach bis Billy Joel. Er hat die Originale überarbeitet, auf mehreren Spuren selbst die verschiedenen Tonlagen eingesungen und dazu Atemgeräusche, Herzklopfen und Wetterstimmungen montiert. Überdies singt er eine Stimme live und interagiert mit den fünf Tänzer-Paaren auf der Bühne. Einfach nur da stehen und singen ist nichts für den ephebischen Musiker, der schon mehrfach Auftritte im Schauspiel hatte. Von der Zusammenarbeit mit Tänzern ist er komplett begeistert: "Musik und Tanz gehören zusammen wie Bruder und Schwester." Den Atem der Tänzer wahrzunehmen, ihre Energie zu spüren und Teil eines solchen Klanggebildes zu sein, sei faszinierender als alles andere, sagt er und vergleicht es mit einer Erfahrung als Chorknabe: "In den ersten Wochen war ich so euphorisiert, dass ich vor Energie hätte platzen können. Diese Euphorie hatte ich auch als junger Thomaner."
Das Ensemble hat an der Schnittstelle von mittelalterlicher Literatur und zeitgenössischer Musik ein Experiment gewagt, das aufgegangen ist. Meditativ, homogen und technisch perfekt ist es ein Abend voll Poesie und zeitloser Schönheit.

Leonore Welzin
(in: Tanznetz, 26.9.2012)

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